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Sprachgewalt und eine Sprache der Liebe

Im Jahr 2017 trat der Landesverband AIDS-Hilfe Hessen erstmals als Mitveranstalterin auf.
Unter dem Titel Sprachgewalt kamen mehrere hundert Menschen in der Frankfurter Paulskirche zusammen. Gastredner war der ehemalige Bundestagsabgeordnete Volker Beck.
Auch Florian Beger, Geschäftsführer der AIDS-Hilfe Hessen, hielt eine Ansprache, die wir an dieser Stelle dokumentieren:
Die Rede als PDF-Dokument.
Worte entfalten Wirkungen. Sprache kann Spuren hinterlassen.
Die richtigen Worte können Freude und Trost spenden, können uns zum Lächeln oder Lachen bringen, sie können uns den Weg weisen, uns das Gefühl schenken, geliebt zu werden. Worte können uns erheben. Worte können schön sein. Worte können unsere Leiden heilen.
Auch Abwertungen, Beleidigungen, Ausgrenzung und Hass werden in Worten ausgedrückt. Dieser Sprachgebrauch ist nicht weniger wirksam: Worte können dann traurig machen, verletzen, Wut auslösen, das Gefühl von Hilflosigkeit erzeugen. Worte können krank machen.
In ihrer gefährlichsten Form kann Sprache vernichtende Züge annehmen: sie ist geeignet, dem Anderen seine Menschlichkeit abzuerkennen, ihn zur unerwünschten Erscheinung zu degradieren, zur Verfügungsmasse, zum Objekt, zu einem entrechteten und entwürdigten Wesen.
Die AIDS-Arbeit hatte es stets mit der verbalen Verhandlung des Phänomens HIV/AIDS zu tun. In der Zeit des großen Sterbens an AIDS konnte den Kranken über viele Jahre oft nicht mehr gegeben werden, als ein tröstendes, zugewandtes Sprechen. Zugleich musste sich dazu verhalten werden, dass im politischen, gesellschaftlichen, öffentlichen Raum, aber auch oft genug in der Privatsphäre, entmenschlichend über die von AIDS betroffenen Menschen gesprochen wurde.
Das Wort AIDS wirkte und wirkt als Auslöser diffuser Ängste und Abgrenzungsbedürfnisse. Die diffusen Vorstellungen von HIV/AIDS dienen als Legitimation, erniedrigend über Andere, anders Lebende und anders Liebende zu sprechen. Es gab viele, die den Mut fanden, nur mit Worten und einer Haltung gewappnet, zu helfen; es gab noch mehr, die nicht anders konnten oder wollten, als zu diffamieren, zu beleidigen, sich über Kranke, Hilfsbedürftige zu erheben.
Dieser ausgesprochen feindliche Umgang mit den Betroffenen einer Krankheit hatte und hat eine Ursache darin, dass sie vor allen Dingen ohnehin bereits marginalisierte Gruppen betrifft: Die Hauptbetroffenengruppe der schwulen Männer ist auch ganz unabhängig von der Existenz von HIV/AIDS leidvoll mit abwertender Sprache erfahren. Für andere Gruppen, die dann in der AIDS-Arbeit Bedeutung gewannen, gilt dies in vielleicht noch größerem Maße – man denke nur an die Drogengebraucher: In der Rede über diese Gruppe ist eine entmenschlichende Sprache noch heute erlaubt, auch von Politikern, auch in den Medien – man analysiere nur beliebige Zeitungsbeiträge zur Situation im Frankfurter Bahnhofsviertel, um hierfür Belege zu finden.
Die toxische Sprache und das HI-Virus bildeten einen Teufelskreis: Die abweichende Lebensform wurde zum Anlass genommen, um im Wege der abwertenden, entmenschlichenden Rede das Selbstwertgefühl von Angehörigen der von HIV/AIDS besonders betroffenen Gruppen zu zerstören – das minderte die Fähigkeit der Betroffenen zur Selbstsorge – die Folgen, etwa die Infektion mit HIV oder dann eine AIDS-Erkrankung wurde den Betroffenen wiederum zur Last gelegt – als Beleg ihres schuldhaften Verhaltens gewertet.
In den vergangenen Jahren hat sich eine ausführliche Debatte über die Verrohung der sprachlichen Umgangsformen entfaltet. Wir, die wir zu den von solcher Sprache besonders Betroffenen zählen und auch zu den von ihr besonders Gefährdeten, wollen uns heute daran beteiligen. Ich möchte mit Ihnen zwei Blicke auf die Problematik werfen:
Erstens auf den öffentlichen Sprachgebrauch und zweitens darauf, wie es uns als Hauptbetroffenen von HIV/AIDS in diesem rauen Umfeld ergeht, was die Sprachgewalt mit uns macht und wie wir uns, von ihr betroffen, verhalten. Dann möchte ich Ihnen Strategien vorschlagen, wie wir uns damit auseinandersetzen könnten.
Zum öffentlichen Sprachgebrauch:
Nicht nur, dass die demokratisierten Medien es jedem erlauben, seine Unzufriedenheiten und Abneigungen jederzeit und prinzipiell für jeden sichtbar zu artikulieren und zu vermitteln. Es ist zweifellos so, dass dies in den sogenannten sozialen Medien roher, undifferenzierter, gewalttätiger geschieht. Die sogenannten sozialen Netzwerke wirken verrohend auf den Sprachgebrauch – das könnte daran liegen, dass Stimmungen dort stark vorgetragen werden müssen, um Reichweite zu erzielen, es könnte an der relativen Anonymität liegen. Worauf es ankommt ist, welche Wirkungen damit einhergehen: Erstens scheint es so, dass soziale Netzwerke eine attraktive Möglichkeit der schnellen Kompensation von Unzufriedenheiten bieten – vielleicht haben Sie bei der Beobachtung Ihrer Freunde in den sozialen Netzwerken auch bereits festgestellt, dass schon kleinste Alltagsfrustrationen zum Anlass für Beiträge in diesen Netzwerken genommen werden. So wie uns die Netzwerke schnelle, leistungsarme Selbstbestätigung liefern, für unsere neuesten Bonmots, Selfies, Bilder aus Urlauben und von Kneipenabenden, so auch die Möglichkeit der schnellen Selbst-Entladung durch Äußerung von Unzufriedenheit und Verärgerung. Es stellt sich die Frage, ob sich diese Möglichkeit, mit Frustrationen umzugehen, negativ auf unsere Belastbarkeit in Hinblick auf unvermeidliche Zumutungen des Alltags in einer pluralen Massengesellschaft auswirkt.
Und überdies: die Netzwerke potenzieren noch Selbstbestätigung durch die Technologie der Filterblase, in die nur noch genau das hineingelangt, was dem Einzelnen gefällt.
Zusammengefasst stellt sich die Frage, ob der Aufenthalt in der virtuellen Öffentlichkeit der sozialen Netzwerke nicht doppelt fatal wirkt: Uns zum Gebrauch brachialer Sprache erzieht, um in unserer Sehnsucht nach Selbstbestätigung durchzudringen und zugleich unsere Fähigkeit beeinträchtigt, selbst abweichende Meinungen auszuhalten. Widerrede zu ertragen, ist aber Bedingung für Teilhabe am demokratischen Prozess, ebenso wie es dazu Bedingung ist, die eigene Rede für den Anderen erträglich zu gestalten.
Nun hat diese neue Öffentlichkeit bereits ihren Ausdruck in Wahlergebnissen, ihren Politikertypus gefunden. Widerrede nicht ertragen zu können, aber sich selbst einer brachialen Sprache im Umgang mit anderen zu bedienen – eine solche Disposition disqualifiziert nicht einmal mehr von den höchsten Ämtern in den westlichen Demokratien.
Auch in Deutschland sind nun wieder Kräfte fast flächendeckend parlamentarisch geworden, die ungezügelt Ressentiments ausdrücken, bedienen und schüren.
Der Blick auf uns:
Wie ergeht es uns nun als Hauptbetroffenengruppen von HIV/AIDS, besonders also uns schwulen Männern, mit der so veränderten sprachlichen Auseinandersetzung?
Seit den späten 1960er Jahren hat sich die staatliche Behandlung schwuler Männer schrittweise und insgesamt radikal verändert und verbessert: Es begann mit der teilweisen und dann vollständigen Entkriminalisierung sexueller Beziehungen zwischen Männern, nahm seinen Weg über das Lebenspartnerschaftsgesetz, eine aktive Antidiskriminierungspolitik bis hin zur Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare im zu Ende gehenden Jahr.
Trotz der rechtlichen Gleichstellung sind schwule Männer aber bis heute Benachteiligungen unterworfen, besonders gesundheitlichen Benachteiligungen. In der AIDS-Arbeit, in der auch die allgemeine Lebensberatung für schwule Männer eine große Rolle spielt, erleben wir es praktisch und alltäglich: Depression, Suizidalität, Substanzmissbrauch, Vereinsamung – dies sind Leiden, die schwule Männer trotz Gleichstellungspolitik überdurchschnittlich stark betreffen. Man kann auch die Problematik HIV/AIDS als Element dieser Benachteiligung lesen.
Von wissenschaftlicher Seite wird dieses Phänomen u. a. dadurch erklärt, dass schwule Männer in kritischen Phasen der Sozialisation „Minderheitenstress“ erfahren, das Bewusstsein und die Angst, von den gewünschten Normen abzuweichen, und deshalb nicht als gleichwertig akzeptiert zu werden. Diese Erfahrung kann sich lebenslang gesundheitlich beeinträchtigend auswirken. Sie beschädigt schwule Männer in ihrem Selbstwertgefühl und in ihrer Fähigkeit zur Selbstsorge.
Worte, etwa homophobe Beleidigungen und Erniedrigungen, können in der Biografie schwuler Männer tiefe Spuren hinterlassen – selbst wenn sie nicht in dieser Absicht ausgesprochen wurden.
Diese Tatsache muss denjenigen deutlich gemacht werden, die glauben, mit der Öffnung der Ehe sei das Thema der Gleichberechtigung erledigt. Die nicht verstehen, warum wir überhaupt noch Anliegen vorzutragen haben. Für Angehörige der nicht-marginalisierten Mehrheitsgesellschaft ist dies nicht unbedingt leicht nachzuempfinden. Termini, die den heterosexuellen Mann in Bezug auf seine sexuelle Identität degradieren und erniedrigen existieren nämlich nicht.
Nun ist es aber keinesfalls so, dass Heterosexuelle ein Monopol auf den Gebrauch homophober Sprache hätten. Es gehörte sogar zu den Emanzipationsstrategien schwuler Männer, sich den Schimpf der Mehrheitsgesellschaft zu eigen zu machen. Es wurden dann Beleidigungen gegen Homosexuelle aufgegriffen, als Selbstbezeichnungen angenommen, emanzipatorisch gewendet und mit stolz getragen – das Wort „schwul“ ist ein Beispiel hierfür. Schwule Männer gingen seit den 1970er Jahren offensiv als Schwule, Schwuchteln, Tunten, Perverse in die Öffentlichkeit mit dem Ansinnen, Aufmerksamkeit, Achtung und Anerkennung zu erkämpfen. Hans-Peter Hauschild, ein wichtiger Frankfurter Vertreter der AIDS-Hilfe-Bewegung, nannte den Solidarzusammenhang der von AIDS besonders betroffenen Gruppen die „Allianz der Schmuddelkinder“. Das klingt kämpferisch und wie ein beinahe nobler Ausdruck des Mutes. Dieser strategische Sprachgebrauch war sicherlich befreiend.
Ein solcher Sprachgebrauch war aber zugleich Ausdruck der Härte gegen uns selbst.
Die Verwendung homophober Sprache ist in homosexuellen Kontexten leider nicht allein Ausdruck emanzipatorischer Strategien. Im Gegenteil: in unseren eigenen Gruppenbezügen, in unserer „Community“ ist homophobe, abwertende Sprache sehr präsent.
Es soll hier kein schiefer Eindruck erweckt werden: In der schwulen Community können Solidarität und gegenseitige Sorge erfahren werden. Daneben steht aber das eigenartige Phänomen, dass in unseren eigenen Gruppenbezügen Hierarchien etabliert werden:
Besonders im virtuellen Raum, etwa, indem wir uns nach unten hin von „Fats“, „Asians“ und „Fems“ abgrenzen, von denjenigen, die es nicht vermögen, den Moden unserer Subkultur zu folgen oder denjenigen, die Schönheitsideale verletzen, von ärmeren und behinderten Schwulen, von HIV-Positiven, von denjenigen, die promiskuitiv leben.
Zudem: Wer hat noch nicht die Rede schwuler Männer gehört, wie wenig sie den anderen Schwulen glichen, wie wenig sie mit der „Szene“ zu tun hätten, wie viel eher sie dem gesellschaftlichen Normalmaß entsprächen.
Der Gebrauch hierarchisierender, abwertender und entsolidarisierender Sprache innerhalb schwuler Kontexte ist ein besonders trauriger Ausdruck des beschädigten Selbstempfindens schwuler Männer. Wenn wir uns mit homophober Sprachgewalt auseinandersetzen, kommen wir um die Befassung mit auch diesem Thema nicht umhin.
Die Sprache der Liebe:
Wie sollten wir uns nun unter der Bedingung des gewalttätigen Sprechens in der Gesellschaft und in unseren Gruppenbezügen verhalten?
Zunächst haben wir ein Interesse an der Pflege des differenzierten, des sorgfältigen, des umsichtigen Sprachgebrauchs. Die klassische politische Rede, der gelehrte Vortrag, die Textform des Essays, sie gilt es heute zu hegen, zu schützen und zu kultivieren wie etwa die Gegenstände musischer Fächer. Es sind dies Formen, die auf das bessere Argument angewiesen sind, Formen, die Zwischentöne beleuchten, Ambivalenzen einräumen, dialektische Verhältnisse nachzeichnen, Formen, die sich nie allzu sicher sind. Sie sind nicht geeignet, die Welt in gut und böse aufzuteilen, die Menschen in würdig und verachtungswürdig. Diese Formen verweigern sich dem gewalttätigen Sprechen und teilen uns zugleich so viel mehr über uns selbst mit. Wir haben sie zu fördern, auch im Bildungswesen, in dem neben der Medien- auch wieder die Rede- und besonders die Gesprächskompetenz gestärkt werden dürfen.
Als schwule Männer und dann im Bündnis mit Lesben und Menschen mit Trans*-Identität dürfen wir uns über die erfolgte rechtliche Gleichstellung freuen. Wir dürfen aber auch darauf hinweisen, dass die Gleichstellung wirkliche Gleichberechtigung nicht abschließt, sondern erst einläutet. Die Öffnung der Ehe dürfen wir als Einladung annehmen, an der Mehrheitsgesellschaft teilzuhaben. Zugleich müssen wir darauf hinweisen, dass es zur Gleichberechtigung gehört, auch mit dem gleichen Respekt angesprochen zu werden. Es ist unsere Aufgabe, weiter und noch entschiedener den Gebrauch einer respektvollen Sprache einzufordern. Dazu gehört es auch, sprachliche Strategien der Beschwichtigung, der Missachtung unserer Anliegen und Bedürfnisse zurückzuweisen und uns selbst die sprachliche Strategie der vorauseilenden Entschuldigung für das eigene, abweichende Dasein abzugewöhnen.
Es ist dann selbstbewusst einzufordern, dass politische Maßnahmen ergriffen werden, um die bestehenden Benachteiligungen zu mildern: durch Erziehung im Bildungssystem zum Respekt vor anderen Lebensformen. Auch durch die flächendeckende Schaffung von Angeboten der Gesundheitsberatung für schwule Männer.
Aber mit der Forderung nach Akzeptanz und Respekt ist es nicht getan. Wir haben es selbst in der Hand, eine Veränderung anzustoßen. Wir schlagen heute vor, dass wir uns in einer Sprache der Liebe üben. Einer Sprache, die das Arsenal der Entwürdigung und Entmenschlichung aufgibt. Einer Sprache, deren Stärke gerade darin liegt, dass sie Verletzlichkeit nicht leugnet. Einer, wie Carolin Emcke schreibt, „zarten“ Sprache. Durch eine liebevolle Sprache in unseren eigenen Gruppenbezügen wollen wir uns gegenseitig stärken, anstatt von außen zugefügte Verletzungen weiterzutragen und zu vertiefen.
Auch in den gesamtgesellschaftlichen Diskursen bedarf es einiger und dann immer mehr Menschen, die aus den Zyklen des herabwürdigen Sprechens aussteigen. Wir sind davon überzeugt, dass sich der Versuch lohnt, auf Beleidigungen nicht wieder mit Beleidigungen zu antworten. Der Versuch, einen Beitrag zur Gesundung der öffentlichen Diskurse zu leisten. Wir halten an der Überzeugung fest, dass so ein öffentlicher Sprachgebrauch hergestellt werden kann, der anders Lebenden und Fremden Stärkung, Achtung und Respekt erfahren lässt.
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